Seit ich denken kann bin ich ein Bewunderer der gekonnten Ohrfeige. Gekonnt bedeutet: passender Moment, entsprechende Gefühlslage, angemessenes Ursache- Wirkungs-Verhältnis. Einfach so drauflosknallen kann jeder.
Es gilt, die perfekte Gelegenheit abzuwarten, ja sogar noch aufzuschieben und alles Erdenkliche zu tun, den Gewaltakt zu verhindern.
Die gekonnte Backpfeife wird unter Schmerzen allein aus der Notwendigkeit, niemals aus bloßer Lust geboren.
Jetzt ist es also geschehen, und ich konnte den Moment erst später, quasi jetzt!, richtig genießen. Das war wegen des dafür eben benötigten Stresslevels. Entspannt in die Fresse geht halt nicht.
Alles fing an, als das kleine Kleinkind fieberkrampfend von meinem Schoß auf die Tischplatte klappte. Es folgte ein hereinbrechender Notarzt, der schon beim Betreten der Wohnung rief: „Na da lassense mal bei Gelegenheit noch die Polypen entfernen!“
Andere Baustelle, muss warten.
Im Krankenhaus: unfassbare Blutfontänen aus dem Handrücken beim prophylaktischen Kanülelegen. Das Kind hängt zwei, drei Tage per Kabel am Überwachungsmonitor, der Bewegungsradius beträgt anderthalb Meter, erklären kann ich ihm das nicht, er findets einfach nur doof.
Tag und Nacht blinkt und piept es, alle paar Stunden kommt jemand zum Fiebermessen und -senken und wieder -messen herein, ich bin völlig gerädert und mache mir so meine Sorgen. Zum Mittagessen gibt es für Vegetarier: Bratkartoffeln mit Kartoffelbrei und Pommes.
Zuhause versorgt Vati solange den Erstgeborenen. Zwischendurch versucht er, die längst verlorene, ja offiziell aufgekündigte Nähe künstlich und unter größten Mühen wiederherzustellen. Man muss ja als Familie zusammenhalten bei sowas, und er wollte ja auch überhaupt gar nicht verlassen werden.
Das Stresslevel steigt. Bei Abholung aus dem Krankenhaus verkünde ich, unter allen Umständen sofort ins Bett zu müssen und für den restlichen Tag weitgehend allein gelassen werden zu wollen.
Das geht sogar ein paar Stunden gut. Als alle Kinder schlafen, schleppe ich mich in die Küche, ich brauche Tee. Da wartet schon DER. Er wolle mir nur ganz kurz noch was sagen. Geschickt eingeleitet durch warme Dankesworte für das besonnene und umsichtige Versorgen des Krampfkindes folgt nun ein umfangreiches Blablabla über seinerseits begangene Fehltritte in der Ex-Beziehung, es endet im festen Entschluss, niemals mehr jemanden mit cholerischen Verbalattacken zu belästigen, nie! mals! mehr! Finde ich richtig, da ich selbst aber davon nichts mehr haben werde, möchte ich jetzt lieber wieder ins Bett gehen.
So war der Gesprächsverlauf offenbar nicht geplant gewesen. Jetzt wäre es wohl an mir, mich für die misslungene ehemalige Partnerschaft zu geißeln, aber das werde ich nie tun, schon gar nicht jetzt, mir liegen noch all die durchpiepten Nächte und unrechtmäßig vereinten Kartoffelbeilagen im Magen. Nebenan liegt das Kind und fiebert immer noch.
Den Rosenbergschen Kommunikationsregeln folgend kündige ich meinen Rückzug sogar an, für Begriffstutzige sogar mit Begründung.
Jetzt steigt das Stresslevel bei DEM, das finde ich ungerecht. Gehört aber scheinbar dazu. Er schreit jetzt rum, weil ich mich immer so gewaltsam entziehe!! Was also mit mir los sei! Vor dem schier nicht enden wollenden „Wasistmitdir?!Waswas?ist?mit?dir?WASISTMITDIR?!“ fällt mir eine schlaue Rettung ein – schnell ins Kinderzimmer, der wird doch keine Kinder wachschreien, schon gar keine noch halb krankenhausreifen, aber doch, „WASISTMITDIR“ folgt mir überallhin, kein Winkel in der Wohnung ist vor ihm sicher, „WASISTMITDIR?!?“ ist immer ganz dicht an meinem Ohr. Ich laufe herum auf der Suche nach Abstand, und ekele mich sehr, denn „WASISTMITDIR?!?“ hört einfach nicht auf, stellt sich vor mir auf, lässt mich nicht weg.
Ich möchte mich im Bad einschließen. Allein, „WASISTMITDIRWASISTMITDIRWASISTMITDIR?!?“ lässt die Türklinke nicht los, ich zerre und ziehe, mir platzen gleich die Ohren – und dann passiert etwas ganz und gar Großartiges! Ich trete buchstäblich aus mir selbst heraus, und jetzt kann ich mir sogar selbst dabei zusehen, wie der große Moment sich vollzieht. Das steht se, die 45-Kilo-Mutti und gibt dem fetten Schreihals aufs Maul. WOAH!
Der hält denn auch endlich den Rand, und lässt, wenn auch reichlich zeitverzögert, die Klinke los. Ich sperre mich ein, ziehe mich an, sperre mich wieder aus und rette mich, den Überraschungsmoment nutzend, aus der Wohnung.
Als ich am nächsten Morgen zurückkomme, hat seine extra angereiste Mutti sich in der Küche aufgepflanzt und hält mir einen Vortrag über häusliche Gewalt.
WASISTMITMIR?!
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