Liebster,

als ich das letzte Mal in so einer Phase steckte wie jetzt, hatte ich vier Unfälle innerhalb von eineinhalb Jahren. Danach wusste ich genau, was ich wollte und was nicht. Beim fünften Unfall starb allerdings aus Versehen mein Vater, obwohl ich mir ganz fest vorgenommen hatte, selbst zu sterben, wenn mein neuer Lebensplan nicht endlich aufgeht.

Nun ja, alle litten, wie du dir vorstellen kannst, aber nie nachgefragt hast. Auch ich. Zugleich hatte ich Glück. Dank Vollwaisenrente konnte ich nicht nur schuldenfrei mein Studium beenden sondern endlich auch aus der stiefmütterlichen Familienhölle in eine höllisch gute WG umziehen. Einigermaßen befreit lernte ich, wie du ja weißt, über meinen damals besten Freund dich kennen. Ich weiß, den folgenden Satz könnte ich mir auch klemmen: Hätte ich mal lieber ihn genommen. Schlauer ist man immer hinterher. Noch so ein Klemmsatz.
Der beste Freund setzte sich ins Ausland ab und da stand ich nun mit dir an den Backen und es fühlte sich gut und richtig an. Hormonell völlig übermannt befruchtete sich eines meiner Eier unverhofft und schon bald schlüpfte gesund und munter unser Kind in diese Welt. Nun sind sieben Jahre rum und du weißt ja wie alle inzwischen, dass sich nach sieben Jahren der Körper zellmäßig ein Mal runderneuert hat. Wir sind einfach nicht mehr dieselben wie am Anfang. Zeit, Bilanz zu ziehen.

Für meine Backen interessierst du dich noch immer, doch sonst weißt du nicht viel von mir. Nicht, dass es bei mir nicht auch ginge, wenn du weiter nicht fragtest; du fragst aber einfach nie wie es mir geht.
Zurzeit geht’s mir echt schlecht. Mir ist schon klar, dass das voll und ganz mein Problem ist, so wie alles, was sich meiner Meinung nach als Problem darstellt, mein Problem ist. Wenn ich das analysiere und auf relative und ultimative Wahrheit hin überprüfe, hast du einfach nur Recht. Doch irgendwie geht es mir trotz dieser Erkenntnis nicht besser und ich komme nicht umhin festzustellen, dass es jetzt einfach mal reicht mit all meinen Problemen.
Als ich noch andere Zellen hatte, war ich auf dem ich-bau-uns-das-Paradies-auf-Erden-Trip (Betonung auf ich, ja du hast ja Recht). Weil ich sowas einfach mal total gut kann. Davon bin ich noch heute überzeugt. Mir war schon klar, dass du da mitbauen musst, wenn das unser Paradies sein soll. Aber wenn du halt grad nicht konntest und ich dafür umso mehr, ich meine, jeder bringt sich doch mal mehr mal weniger ein. Es war ein Leichtes dir erstmal Raum zu geben, nachdem wir Hals über Kopf samt Nachwuchs in unsere Dreier-WG gezogen sind. Dir Zeit zu geben, dich einzufinden in diese neue Konstellation und Situation. Dir meine Liebe bedingungslos vor die Füße fließen zu lassen, damit du drumherumlaufen kannst, wann immer du willst und dich nicht genötigt fühltest, in sie hineinzutauchen. Das war alles kein Problem, echt nicht, hab ich total gern gemacht; ich meine, ich war so offen und so dankbar für mein Glück und mein Leben. Hier kommt schon das Problem. Mein Glück, mein Leben. Weil du dazugehörtest, schloss ich dich einfach mit ein, ohne zu bedenken, dass es dich anders betreffen könnte. Sorry.
So nahm das Problem seinen Lauf und irgendwann kamen die ersten Zipperlein, ging das alles nicht mehr so lockerflockig vom Hocker, da wurde es plötzlich anstrengend, Kräfte zehrend. Damals hatte ich noch absolut gar nichts von Beziehungsgärten gehört, die von allen Nutzern gepflegt und gegossen und gejätet und sowas werden müssen. Jetzt war das Paradies-Projekt nun mal angefangen. Ja komisch, ehrlich gesagt hätte ich auch nicht gedacht, dass das ausgerechnet sooo lange dauert mit dem Mitmachen. Das Kind sollte es doch auch gut haben. Es ist nicht das Kind, das schlaucht, oder die Arbeit (also die zum Geldverdienen meine ich) oder der ganze Rest der Familien-Bagage, auch nicht die Freunde mit ihren Problemen (echt, die haben auch welche und die sind nun aber wirklich selbst dran schuld). Auch du schlauchst. Wenn du so auf dem Schlauch stehst und das Schlauchboot seit (wie alt ist unser Kind jetzt? Ach ja…) drei Jahren ungenutzt im Keller liegt. Ich soll mich zwar nicht immer einmischen in deine Projekte. Von denen gibt es viele. Anfangs war ich mega inspiriert und hin und weg von deinen ganzen tollen Ideen. Aber umgesetzt hab ich sie meistens allein. O Mann, ich bin jetzt einfach durch vom ganzen Alleinemachen. Kannst du das verstehen? Ich kanns nicht mehr. Ich kann auch nicht mehr.
Und jetzt bin ich wieder in dieser Phase: ich will nicht mehr.
Schon mal was von Beziehungs-Burnout gehört? Mein Gott.

Eigentlich wollte ich dir einen Liebesbrief schreiben. Auf meine bisherigen hast du mir jedoch wenig bis gar nicht geantwortet. Bei Mahnungen ist das anders – da reagierst du wie auf sonst nichts.

Also:

Muss denn erst wieder einer sterben?